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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss verkündet am 12.01.2006
Aktenzeichen: 2 Ss 135/05
Rechtsgebiete: StPO, JGG


Vorschriften:

StPO § 357
JGG § 55 Abs. 1
Ist die Urteilsaufhebung in Fällen des § 357 StPO auch dann auf den nicht revidierenden früheren Mitangeklagten zu erstrecken, wenn dessen Revision wegen § 55 Abs. 2 JGG unzulässig wäre?
OBERLANDESGERICHT KARLSRUHE 2. Strafsenat

2 Ss 135/05

Strafsache gegen

wegen Raubes

Beschluss vom 12. Januar 2006

Tenor:

Die Sache wird dem Bundesgerichtshof nach § 121 Abs. 2 GVG zur Entscheidung vorgelegt.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht W.-T. sprach den Angeklagten G. und die Mitangeklagte G. des gemeinschaftlichen Raubes schuldig und verurteilte den Angeklagten G. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten und die Angeklagte G., die zum Tatzeitpunkt 19 Jahre alt war, zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten mit Bewährung. Die hiergegen unbeschränkt eingelegten Berufungen beider Angeklagter sowie die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft verwarf das Landgericht W.-T. mit dem angefochtenen Urteil vom 02.03.2005.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten G., mit der die Verletzung materiellen Rechts gerügt wird.

II.

Der Senat beabsichtigt, das Urteil mit den Feststellungen bezüglich beider Angeklagter aufzuheben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen. Hieran sieht er sich bezüglich der nicht revidierenden früheren Mitangeklagten G. durch das entgegenstehende Urteil des OLG O. vom 05.03.1957, NJW 1957, 1450 gehindert und legt das Verfahren daher zur Entscheidung der zugrunde liegenden Rechtsfrage dem Bundesgerichtshof vor.

Im Einzelnen:

1. Der Revision des Angeklagten G. kann ein zumindest vorläufiger Erfolg nicht versagt werden.

Nach den Urteilsfeststellungen drohte der Angeklagte am Morgen des 13.05.2003 gegen 6.00 Uhr einem Bekannten in dessen Wohnung mit Schlägen, falls dieser aus seinem Zimmer herauskomme. Diese Drohung wiederholte er ca. 15 Minuten später. Der Bekannte nahm die Drohung ernst und blieb in seinem Zimmer. Sodann entwendeten der Angeklagte und seine Freundin diverse Dekorationsgegenstände (8 Miniaturkronen und 2 Fabergé-Eier) im Sammlerwert von ca. 1.600,- € aus der Wohnung des Geschädigten. Insgesamt hielten die Angeklagten sich an diesem Morgen ca. eine Stunde in der Wohnung des Geschädigten auf, die sie gegen 7.00 Uhr unter Mitnahme der genannten Gegenstände verließen. Zur subjektiven Tatseite stellt das Urteil fest: "Hauptsächlich ging es den Angeklagten darum, den Zeugen S. (den Geschädigten) zu ärgern bzw. ihm einen Denkzettel zu verpassen (...). Sie zogen allerdings auch in Erwägung, die Gegenstände zu Geld zu machen, indem sie sie an ein Pfandhaus verkauften. Hierzu kam es jedoch nicht." Der Angeklagte G. traf den Geschädigten ca. 2 1/2 Monate später in der Stadt; es kam zu einer Aussprache und der Angeklagte gab die Gegenstände zurück.

Diese Feststellungen belegen zunächst nicht hinreichend die in § 249 StGB vorausgesetzte finale Verknüpfung zwischen der Drohung und der Wegnahme der Gegenstände. Beim Raub muss nach der Vorstellung des Täters der Einsatz des Nötigungsmittels mit der Wegnahme ursächlich verknüpft sein. Erfolgt die Wegnahme dagegen nur "gelegentlich" der Nötigungshandlung oder folgt sie der Nötigung nur zeitlich nach, ohne dass eine finale Verknüpfung bestünde, kommt ein Schuldspruch wegen Raubes nicht in Betracht (BGH StV 1995, 340; NStZ-RR 2002, 304 f.).

Die Urteilsfeststellungen lassen hier diese finale Verknüpfung nicht erkennen, sondern erwähnen lediglich die zeitliche Reihenfolge von Drohung und Wegnahme ("sodann"). Sie ergibt sich auch nicht von selbst aus den objektiven Feststellungen. Angesichts der hier gegebenen Situation, die dadurch gekennzeichnet war, dass sich der Geschädigte nicht in dem Zimmer aufhielt, in dem die Wegnahme geschah, sondern zum Schlafen in seinem Schlafzimmer, hätte es einer eingehenderen Begründung des Landgerichts bedurft, weshalb hier aus der Sicht des - die Drohungen leugnenden - Angeklagten G. Drohungen im Abstand von einer Viertelstunde erforderlich gewesen sein sollen, um die Wegnahme der wenigen kleinformatigen Gegenstände zu bewerkstelligen. Daran fehlt es. Die Feststellungen des Landgerichts ergeben ferner nicht, dass die Angeklagten mit Zueignungsabsicht gehandelt haben, denn bei der Tat ging es ihnen "hauptsächlich" darum, den geschädigten Zeugen zu ärgern. Zwar sollen sie auch erwogen haben, die Gegenstände zu Geld zu machen, jedoch wird das Ergebnis dieser Erwägungen nicht mitgeteilt. Tatsächlich haben die Angeklagten die Gegenstände nicht verwertet, sondern zurückgegeben, wenn auch erst nach zweieinhalb Monaten, wobei offen bleibt, ob eine so späte Rückgabe schon bei der Tatausführung beabsichtigt war.

Eine Umstellung des Schuldspruchs auf Diebstahl und Nötigung kommt bei dieser Sachlage nicht in Betracht, da möglicherweise weitere Feststellungen getroffen werden können.

2. Der Senat hält es für geboten, die somit notwendige Aufhebung des Urteils gemäß § 357 StPO auch auf die nicht revidierende Mitangeklagte G. zu erstrecken. Hieran sieht er sich aber durch die entgegenstehende Entscheidung des OLG O. vom 05.03.1957, NJW 1957, 1450, gehindert.

2.1. Es liegt ein Fall des § 357 StPO vor, da das angefochtene Urteil zu Gunsten des Angeklagten G. wegen einer Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes aufzuheben ist und dieselbe Rechtsverletzung auch für die Verurteilung der früheren Mitangeklagten G. ursächlich ist. Diese war zum Tatzeitpunkt 19 Jahre alt und wurde gem. § 105 JGG nach Jugendstrafrecht verurteilt. Gem. § 109 Abs. 2 JGG ist daher auch § 55 JGG auf sie anzuwenden, nach dessen Abs. 2 sie nur entweder Berufung oder Revision einlegen kann. Da sie vorliegend Berufung eingelegt hatte, war für sie das Rechtsmittel der Revision nicht mehr statthaft.

2.2. Der Senat ist der Auffassung, dass hieran eine Aufhebung des Urteils auch bezüglich der nicht revidierenden Mitangeklagten nach § 357 StPO nicht scheitert.

Gegenteiliger Auffassung ist jedoch das OLG O. in dem genannten Urteil. Ihm lag zugrunde, dass ein erwachsener Angeklagter vom Jugendschöffengericht u. a. wegen schweren Diebstahls, ein jugendlicher Angeklagter wegen Beihilfe hierzu verurteilt worden waren. Beide legten Berufung ein, die lediglich hinsichtlich der Rechtsfolgen für den Jugendlichen zu einem Teilerfolg führte. Der erwachsene Mitangeklagte legte gegen das Urteil der Jugendkammer u. a. wegen der Verurteilung wegen schweren Diebstahls Revision ein, die zum Erfolg führte, weil die gesetzlichen Merkmale des schweren Diebstahls nicht hinreichend festgestellt waren. Das OLG O. prüfte eine Erstreckung der Urteilsaufhebung gem. § 357 StPO auf den nicht revidierenden wegen Beihilfe zum schweren Diebstahl verurteilten Jugendlichen, lehnte ihn aber ab.

Diese Verfahrenssituation entspricht der hier vorliegenden. Würde der Senat die Rechtsauffassung des OLG O. teilen, würde er auch vorliegend das Urteil nur bezüglich des Angeklagten G., nicht aber bezüglich der Heranwachsenden G. aufheben. Der Senat hält die Rechtsauffassung des OLG O. aber für unzutreffend.

Der Senat legt deshalb gem. § 121 Abs. 2 GVG die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vor:

Ist die Urteilsaufhebung in Fällen des § 357 StPO auch dann auf den nicht revidierenden früheren Mitangeklagten zu erstrecken, wenn dessen Revision wegen § 55 Abs. 2 JGG unzulässig wäre?

Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu dieser Frage liegt, soweit ersichtlich, noch nicht vor.

2.3. Mit der h. M. zum JGG ist der Senat der Auffassung, dass sich die Urteilsaufhebung bei einer erfolgreichen Revision eines erwachsenen Mitangeklagten auf den nach Jugendstrafrecht verurteilten Mitangeklagten gemäß § 357 StPO erstrecken muss, dem wegen § 55 Abs. 2 JGG das Rechtsmittel der Revision nicht mehr zur Verfügung steht (vgl. Eisenberg, JGG, § 55, Rn. 70; Brunner/Dölling, JGG, 10. Aufl., § 55, Rn. 16; Ostendorf, JGG, 5. Aufl., § 55, Rn. 41). Dies folgt aus einer Abwägung der Regelungszwecke des § 55 Abs. 2 JGG einerseits und des § 357 StPO andererseits.

§ 55 Abs. 2 JGG verfolgt den Zweck, das Jugendgerichtsverfahren der besseren erzieherischen Wirkung wegen angemessen zu beschleunigen. Aus diesem Grund soll jeder Verfahrensbeteiligte nur ein Mal ein Rechtmittel einlegen können (z.B. BayObLG MDR 1977, 16 ff; allg. M.).

Der Normzweck des § 357 StPO besteht darin, das Rechtsgefühl verletzende Ungleichheiten zu verhindern (KK/Kuckein, StPO, § 357, Rn. 1). Wenn die Vorschrift auch nicht Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ist, der die Durchbrechung der Rechtskraft zugunsten der materiellen Gerechtigkeit erlauben würde, besteht doch Einigkeit darüber, dass es eine "qualifizierte Ungerechtigkeit" bzw. eine "Schädigung der Gerechtigkeit" (Wohlers/Gaede, NStZ 2004, 9, 10) darstellt, wenn mehrere Mitangeklagte, die durch dasselbe Urteil abgeurteilt worden sind, hinsichtlich einer Tat ungleich behandelt werden, weil das tatrichterliche Urteil wegen materiellrechtlicher Mängel keinen Bestand haben kann.

Nach Auffassung des Senats muss das Ziel schneller Verfahrensbeendigung hinter dem Gebot der Herstellung materieller Gerechtigkeit, dem obersten Ziel des Strafprozesses, zurücktreten. Andernfalls würde nicht nur der Zweck des § 357 StPO verletzt, sondern auch der Erziehungsgedanke des JGG. Dies wird im vorliegenden Falle, in dem nicht nur eine Schuldspruchänderung, sondern sogar die Freisprechung der Mitangeklagten G. wegen einer beiden Angeklagten möglicherweise fehlenden Zueignungsabsicht denkbar ist, besonders deutlich. Gerade gegenüber Jugendlichen ist es aus erzieherischen Gründen wichtig, Entscheidungen zu verhindern, die das Rechts- und Gerechtigkeitsgefühl der betroffenen Jugendlichen erheblich - und unter Umständen in noch viel krasserem Maße als im vorliegenden Falle - verletzen können (Dallinger MDR 1963, 539 ff., 540). Die Nichterstreckung der Urteilsaufhebung würde eine unverständliche und unbegründete Schlechterbehandlung des jugendlichen Mitangeklagten bedeuten (KMR/Paulus, StPO, § 357, Rn. 14).

2.4. Der Senat ist der Ansicht, dass weder der Wortlaut des § 357 StPO noch rechtsdogmatische Erwägungen einem Durchgriff der Urteilsaufhebung auf nicht revidierende Mitangeklagte, welche nach § 55 Abs. 2 JGG keine Revision einlegen können, entgegenstehen.

Das OLG O. ist der Auffassung, bereits aus dem Wortlaut des § 357 StPO ("..., die nicht Revision eingelegt haben, ...") ergebe sich, dass sein Anwendungsbereich auf die Mitangeklagten beschränkt sei, denen die Möglichkeit zur Revision offen stand. Zudem rechtfertige die Ausnahmenatur der Vorschrift eher eine einschränkende als eine ausdehnende Auslegung. Diese Ansicht des OLG O.g wird von der herrschenden Literatur zur StPO bestätigt (Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., § 357, Rn. 7 m. w. N.; a. A. KMR/Paulus, StPO, § 357, Rn. 14). Die Durchbrechung der Rechtskraft müsse dort ihre Grenzen finden, wo die Revision grundsätzlich ausgeschlossen ist, weil durch § 357 StPO nicht der gesetzlich vorgesehene Rechtsmittelzug verändert werden solle (LR/Hanack, StPO, § 357, Rn. 11). Dem entspricht es, dass das Bayerische Oberste Landesgericht für den Fall der Zulassungsbeschwerde im Ordnungswidrigkeitenrecht bei dem Nichtrevidenten, dessen Rechtsbeschwerde zulassungsbedürftig ist, die Zulassungsvoraussetzungen prüft und die Erstreckung nach § 79 Abs. 3 OWiG, § 357 StPO ablehnt, wenn dessen Rechtsbeschwerde gem. § 80 OWiG nicht zuzulassen gewesen wäre (BayObLG GewArch 1999, 333).

Diese Argumentation zwingt nach Auffassung des Senats für den Bereich des § 55 Abs. 2 JGG nicht dazu, von einer Erstreckung der Urteilsaufhebung in Fällen, in denen die sonstigen Voraussetzungen des § 357 StPO erfüllt sind, abzusehen. Nach dem Wortlaut des § 357 StPO ist es nicht von Bedeutung, warum der Nichtrevident keine Revision eingelegt hat (a. A. RG JR Rspr. 1926 Nr. 1799). Eine Beschränkung der Urteilserstreckung auf Nichtrevidenten, deren Revision statthaft gewesen wäre, kann daher nur mit der Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung begründet werden. Entgegen dem Postulat einer engen Auslegung wird die Vorschrift des § 357 StPO aber teilweise auch erweiternd oder sogar analog angewendet. Wohlers/Gaede, a.a.O., S. 11, konstatieren daher zutreffend, dass "ohne klare Differenzierungskriterien mal dem Ziel der Herstellung materialer Gerechtigkeit, mal dem Ziel der Vermeidung unangemessener Folgen der aufgezwungenen Erstreckung" (bzw. der Vorrangstellung der Rechtskraft vor ihrer Durchbrechung) "der Vorrang eingeräumt wird". So wird eine Einstellung des Verfahrens gegen den Revisionsführer wegen Fehlens von Prozessvoraussetzungen nach § 206 a StPO auf den Nichtrevidenten erstreckt (BGHSt 24, 208; BGH NStZ 1987, 239). Die Urteilsaufhebung greift zudem nach allgemeiner Ansicht gem. § 357 StPO auch auf solche Nichtrevidenten durch, die ihrerseits auf ein Rechtsmittel verzichtet haben oder deren eigene Revision vor der Entscheidung über die des Mitangeklagten als unzulässig - wenn auch nicht unstatthaft - oder unbegründet verworfen wurde (SK/Wohlers, StPO, § 357, Rn. 26 ff.; Wohlers/Gaede, a.a.O., 10 f. m. w. N. bei Fn. 34), obwohl der Wortlaut des § 357 StPO einer Erstreckung der Aufhebung in diesem Fall entgegenzustehen scheint.

Im Fall eines Wahlrechtsmittels wie bei § 55 Abs. 2 JGG, dessen Ausdehnung auf Erwachsene in der gegenwärtigen Diskussion zur Justizreform erwogen wurde (Empfehlungen der Justizstaatssekretäre zur großen Justizreform März 2005; Entwurf zum Justizbeschleunigungsgesetz BT-Drs. 15/1491), bedeutet die Entscheidung für die Berufung gleichzeitig einen Verzicht auf die Revision. Auch dies spricht dafür, den auf die Revision verzichtenden Jugendlichen so zu behandeln wie einen ebenfalls - wenn auch aus anderen Gründen - hierauf verzichtenden Erwachsenen (Dallinger MDR 1963, 539, 540).

Nach alledem haben weder das Wortlautargument noch das Postulat enger Auslegung eine Verbindlichkeit, die die Anwendung der Vorschrift auf Fälle, in denen der Nichtrevident an der Revisionseinlegung durch § 55 Abs. 2 JGG gehindert war, ausschlösse.

III.

Die Entscheidung konnte gem. § 349 Abs. 4 StPO durch Beschluss ergehen, da der Senat einstimmig der Auffassung ist, dass das angefochtene Urteil bezüglich beider Angeklagter aufzuheben ist (vgl. Kissel/Mayer, GVG, 4. Aufl., § 121, Rn. 23). Um eine unnötige Verfahrensverzögerung zu vermeiden, hat der Senat von einer Anfrage beim OLG O., ob an der dortigen Rechtsansicht festgehalten wird, abgesehen.

Ende der Entscheidung

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